Hallo, Gast!
Registrieren

Der dichtende Spion - nur eine Projektion?

ÜBER "DIE WELT DER ZUKUNFT"



Storycode: I TL 2721-2P
Originaltitel: Topolino e il mondo che verrà
Deutscher Titel: Die Welt der Zukunft
Seitenanzahl: 72 (3-reihig)
Autor & Zeichner: Casty
Erstveröffentlichung: 22. Januar 2008 (Italien, Topolino 2721-2724)
Deutsche Veröffentlichungen: Lustiges Taschenbuch 427

Casty ist Kult. Er belegt mit seinen Geschichten jedes Jahr einen der ersten drei Plätze der Topo Oscars und ist auch in Deutschland ein zurzeit sehr gefragter Autor und Zeichner. Zu seiner Popularität hierzulande hat sicher auch diese Geschichte beigetragen, welche wohl so einige Unwissende sprachlos zurückgelassen hat. Denn "Die Welt der Zukunft" ist nicht nur ein Disney-Comic, wie wir ihn sonst immer lesen, nein, sie ist mehr. Und weshalb, erkläre ich euch jetzt.

Die Story beginnt in der Antarktis mit dem dichtenden Spion, der zu einer mysteriösen Halle mit einer großen "3" am Eingang geht. Zwei Wissenschaftler, die dort anscheinend schon sehr lange leben, denken, der Spion sei Teil irgendeines Vereins, zu dem diese Forscher auch gehören. Dem ist nicht so, und die beiden merken, dass der dichtende Neuankömmling nichts Gutes im Schilde führt. Szenenwechsel: Minnie arbeitet gerade mit einem dauerschlafenden Professor (der mich sehr an Prinz Valium aus "Spaceballs" erinnert hat) an dessen Biografie, als es klingelt. Als der Professor die Tür öffnet, hören wir Leser nur den Code für Gefahr und so gibt er Minnie eine Karte, die der gleich eintreffende dichtende Spion wohl auch gerne hätte. Wie wir bald erfahren, führt die Karte Minnie und Micky zu einer verlassenen Halle mit der Aufschrift "4". Minnie gibt in eine Maschine einen Code ein, der sich auch auf dem Zettel mit der Karte befindet, und es regt sich eine riesige, menschenähnliche Maschine und packt sie ins Cockpit. Micky wird allein zurückgelassen, jedoch kurz darauf von Agenten entführt. Die Lage entspannt sich, als er erfährt, dass er von einer Geheimorganisation gekidnappt wurde, in der auch Gamma Mitglied ist. Schließlich finden die beiden heraus, dass es sich bei all der Geheimniskrämerei um ein Projekt namens "Die Welt der Zukunft" handelt. Währenddessen möchte der dichtende Spion von Minnie den Aktivierungscode für die Roboter in den anderen Hallen, außer "3" und "4", haben und erpresst Micky. Gamma ortet den Spion in Pazifistan, wo die beiden kurzentschlossen hinfliegen.
Pazifistan, früher ein ruhiges, friedliches (daher auch der Name), wenn auch provinzielles Land, ist nun eine Diktatur. Es befindet sich unter der Fuchtel von Prinz Niklas, der seinen Onkel, den rechtmäßigen König, als Marionette benutzt. Schnell stellt sich heraus, dass Niklas mit Hilfe des dichtenden Spions die Welt der Zukunft erschaffen möchte. In seinem eigenen Land wird das Volk schon unterdrückt und der Regierung geht es nur um Profit, Niklas möchte das aber noch auf andere Länder ausweiten. Zum Glück haben Micky und Gamma aber eine Insiderin, die ihnen hilft, in das Schloss des pazifischen Königs zu kommen.


Als ich diese Geschichte zum ersten Mal las, hat sie mich verzaubert; ich habe tagelang von der Geheimorganisation geträumt, über das seltsame Ende nachgedacht und habe versucht, coole Sprüche für den dichtenden Spion zusammenzureimen. Schon auf den ersten Seiten erkennt der Leser anhand der markanten Reime, dass es sich bei dem Bösewicht dieses Mal um eine vergessen geglaubte Figur handelt: den dichtenden Spion. Zuerst habe ich gedacht, das Ganze sei nur eine nostalgische Geschichte, in der es darum geht, dem dichtenden Spion mal wieder eine Schlüsselrolle zu geben, und nicht um den Plot. Doch dieser erste Eindruck ist falsch: Natürlich spielt der Dichterspion eine wichtige Rolle, nichtsdestotrotz geht es bei "Die Welt der Zukunft" hauptsächlich um die geheimnisvolle Geschichte.

Apropos geheimnisvoll: Das sind Castys Geschichten fast immer. Der Leser wird nur sehr langsam an die Charaktere herangeführt, hier etwa bleibt lange Zeit unklar, um wen sich die Geschichte dreht, wenn einem der dichtende Spion kein Begriff mehr ist. Interessant ist auch, dass der dichtende Spion in keiner einzigen Scarpa-Geschichte und nur in einer einzigen Gottfredson-Geschichte vorkam, obwohl diese beiden ja die Hauptinspirationsquelle für Casty sind. Dass dieser allerdings gut mit dem "Rhyming Man" umgehen kann, merkt man schon an seiner Einsetzung: der dichtende Spion ist böse. Es scheint so, als würde er nicht einmal davor zurückschrecken, Minnie sterben zu lassen. Außerdem scheint er über irgendwelche übernatürlichen Kräfte zu verfügen, als ihm Minnie nämlich einen gusseisernen Topf an den Kopf wirft, trägt nicht der Kopf, sondern der Topf den Schaden davon. Zudem verfügt er über finanzielle Mittel, von denen Kater Karlo und selbst Superjux nur träumen können. Was mich auch immer wieder verwundert hat, ist die Benutzung von Täuschungsmitteln, wie zum Beispiel ein Hologramm, was die Frage aufwirft, was der dichtende Spion nun eigentlich wirklich ist – vielleicht eine Maschine?

Auch wenn der dichtende Spion eine Figur aus den 1940ern ist,
schafft es Casty wie so oft, einen unglaublichen Spagat zwischen klassisch und modern zu vollführen. Das merkt man allein schon an der Nutzung moderner Technologien wie Computer und Telekommunikationsmittel, aber auch an den klassischen Elementen, wie ein Archiv aus Papier, welches heute wohl eher digital existieren würde.

Nichtsdestotrotz ähneln sich die Geschichten "Micky und der dichtende Spion" und "Die Welt der Zukunft" sehr, in beiden geht es um tagesaktuelle Themen: in ersterer um die damalige Angst vor einem Atomkrieg und in der zweiten um die schleichende Diktatur, welche oftmals von außen nur schwer erkennbar ist, wie zurzeit in der Türkei (zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war wahrscheinlich eher Russland gemeint). Casty bekennt sich hier nicht nur zu einer klaren Haltung gegenüber totalitären Regimes, sondern beendet die Geschichte mit einer klaren Moral, wie auch zuvor in "Tutors Welt". Im Gegensatz zu dieser wirkt die Geschichte jedoch nicht wie ein Oberlehrer, der den Rohrstock schwingt und schreit "ANTIFA", die Moral wird eher augenzwinkernd transportiert, lässt sich aber dennoch klar definieren. Kaum aufgegriffen wird hier hingegen das "Spion" im Namen des Rhyming Man. Während in Walshs und Gottfredsons Geschichte der Hintergrund und die Spionage-Agentur des Dichters noch ganz klar zum Vorschein kommt, wirkt er in "Die Welt der Zukunft" eher wie ein Bösewicht, der alleine die Macht der Welt an sich reißen möchte und aus reiner Zerstörungslust agiert.

In den letzten Jahrzehnten ist die Nutzung von Gewalt in Disney-Comics immer häufiger geworden, im ersten Kapitel von "Micky Mystery" schießt ein Auftragsmörder mit einem Maschinengewehr über einen überfüllten Bahnhof und im Zyklus des neuen Phantomias gibt es in jeder Folge mindestens eine Schlägerei, auch mit Pistolen, die hier allerdings so unglaubwürdig aussieht, dass sie wohl niemanden einschüchtern werden. Natürlich darf auch in "Die Welt der Zukunft" ein bisschen Gewalt nicht fehlen, obwohl diese ja bei Casty immer eher im Stile Scarpas ausgeführt wird, das heißt seichter.

Zwar sind die Zeilen des Spions nicht von bester Qualität und beschränken sich wie schon zuvor meist auf Paarreime, dies mindert den Lesespaß aber kaum, da das auch als Parodie auf jene Gedichte aufgefasst werden kann, die zwar eine extreme Wortgewandtheit aufweisen, sich aber nur mit Ach und Krach reimen: Das Mittel wird zum Zweck. Besonders faszinierend fand ich immer Gammas Agentur, ich liebe einfach solche Gedankenspiele von weltumspannenden Organisationen, die sich im Geheimen um das Wohl ebendieser kümmern.

Und zuletzt noch ein Spoiler: Am Ende der Geschichte, nachdem der dichtende Spion im Wasser untergegangen ist, sieht man, wie er sich wieder herauszieht. Das könnte einerseits die Wiederherstellung des Status Quo sein, um ein Verwenden des Spions in späteren Geschichten zu ermöglichen, oder, was bei Casty wahrscheinlicher ist, es ist ein Anzeichen auf eine mögliche Fortsetzung.

Ein Meisterstück, welches Casty wohl an die Spitzen der Bestenlisten von Disney-Comic-Fans katapultiert hat. Absolut empfehlenswert.


von Huwey

Zuletzt aktualisiert: 01.05.2023, 14:32
Zum korrekten Funktionieren dieser Seite werden Cookies benötigt. Durch die weitere Nutzung erklärst du dich mit dem Einsatz von Cookies einverstanden. Weitere Informationen