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Mezza-Villa

ÜBER "VILLA DER VERSCHWUNDENEN DINGE"

Ungewöhnliche Geschichten erfordern ungewöhnliche Panelauswahl

Storycode: I TL 2341-1
Originaltitel: Topolino e la villa dei misteri
Deutscher Titel: Villa der verschwundenen Dinge
Seitenanzahl: 33 (3-reihig)
Autor: Silvano Mezzavilla
Zeichner: Giorgio Cavazzano
Erstveröffentlichung: 10. Oktober 2000 (Italien, Topolino 2341)
Deutsche Veröffentlichungen: Lustiges Taschenbuch Ostern 5

Der 1944 geborene Silvano Mezzavilla schreibt nicht nur Disney-, sondern auch andere Comics, außerdem ist er Journalist, Drehbuchautor und vor allem Comicexperte; so organisiert er auch ein Comicfestival in seiner Heimatstadt Treviso. Bei so vielfältigen Tätigkeiten ist es verständlich, dass sein Disney-Gesamtwerk eher bescheiden ausfällt: Der Inducks listet 34 Geschichten von ihm (wenn man sechs Karlo-Einseiter und drei Kurzgeschichten mit Ahörnchen und Behörnchen ausnimmt), von denen immerhin 18 in Deutschland veröffentlicht wurden. Auch wenn Mezzavilla nicht sehr bekannt ist, ist er doch ein erstklassiger Autor, der insbesondere mit Micky ebenso gut umzugehen weiß wie Casty oder Faraci. Das sieht man auch daran, dass bereits drei seiner Geschichten M.O.U.S.E.-Comic des Monats waren: Das verzögerte Telefonat, Sandsturm über Entenhausen und Rätsel um die Schneekugel.

Einen großen Teil von Mezzavillas Werk machen Micky-Kriminalfälle aus. Sie beginnen meistens mit mysteriösen Geschehnissen, denen Micky auf den Grund geht. So weit nichts Ungewöhnliches, doch was bei Scarpa oder Gottfredson schon nach wenigen Seiten zu einem spannenden, actionreichen Abenteuer geworden wäre, mündet bei Mezzavilla in absolut unaufgeregte Ermittlungsarbeit und endet schließlich damit, dass Micky die Lösung des Falles erklärt, ohne dass es ein allzu spannendes Finale gäbe. Das wäre bei anderen Autoren langweilig, nicht aber bei Mezzavilla. In seinen Geschichten ist ein besonderer, nur bei ihm auftretender Geist spürbar: eine ganz eigene Atmosphäre der Ruhe und Stille, eine nachdenkliche, zurückgezogene Stimmung, die den Leser auf eine ganz spezielle Art in ihren Bann zieht. Oft wird das verstärkt durch traumhafte, atemberaubend atmosphärische Zeichnungen von Giorgio Cavazzano, die den Geist der Geschichte perfekt einfangen. Auch wenn Mezzavilla mit vielen guten Zeichnern zusammengearbeitet hat, passt Cavazzanos Stil doch mit Abstand am besten zu seinen Geschichten. Insgesamt zehn Werke existieren von dem genialen Duo Mezzavilla/Cavazzano. Eines davon – "Villa der verschwundenen Dinge" – möchte ich nun hier vorstellen.

Warum gerade diese Geschichte? Weil sie ganz und gar einzigartig ist. Die angesprochene spezielle Mezzavilla-Stimmung ist hier viel stärker als irgendwo sonst, und die ganze Geschichte ist so ungewöhnlich, wie ein Disney-Comic nur sein kann. "Villa der verschwundenen Dinge" ist sicher Mezzavillas eigenartigstes Werk, und auch wenn ich längst nicht alle Geschichten von ihm kenne, wage ich die Vermutung, dass es auch sein wichtigstes, bestes ist. In "Villa der verschwundenen Dinge" intensiviert Mezzavilla seine persönliche Handschrift wie noch nie, seine individuellen Merkmale sind hier vielfach verstärkt, die ganze Geschichte wirkt wie eine Steigerung von allem, was Mezzavilla ausmacht.
Irren ist mauslich
Daher halte ich die Geschichte trotz ungleich bekannterer Werke wie "Das verzögerte Telefonat", "Kater Karlos Klassentreffen" oder "Der mächtige Maschinenmann" für sein eigentliches Hauptwerk.

Bereits der Beginn ist ungewöhnlich. Es handelt sich um eine zweiseitige, bis auf etwas Babygeschrei wortlose Sequenz, die der Leser zunächst nicht deuten kann und die etwas relativ Banales erzählt: Zwei Frauen gehen im Park spazieren, eine schiebt einen Kinderwagen mit einem Baby und einem Teddy darin, der Teddy geht verloren, und das Baby weint. Die Frau nimmt es in den Arm, und der Blickpunkt rückt immer weiter von ihnen weg, aber es kommt kein Hintergrund dazu, die Szene verliert sich...

Scheinbar zusammenhanglos wird Micky in einem Zugabteil vom Schaffner geweckt, weil er aussteigen muss. Also steigt er aus. In einer normalen Geschichte würden wir zu diesem Zeitpunkt bereits wissen, wo er jetzt ist und was er dort zu tun gedenkt, oder es zumindest gleich erklärt bekommen, aber dies ist keine normale Geschichte. Micky steht einfach am Bahnhof, zwei Panels ohne Text lang, und der Leser hat keine Ahnung von gar nichts. Erst allmählich wird aus den Gesprächen der Figuren deutlich, was los ist: Ein gewisser Baron von Bibb hat Micky in seine Villa kommen lassen, offensichtlich als Detektiv. Nun glaubt man, einen normalen Kriminalfall vor sich zu haben, der nur etwas ungewöhnlich eröffnet wird. Man hat ja auch eigentlich allen Grund dazu: eine Villa voller seltsamer Bewohner, die alle auf die eine oder andere Weise verdächtig sind, dazu ein Detektiv, der herbeigerufen wird, um rätselhafte Vorkommnisse aufzuklären – das ist sehr klassisch und erinnert auch ein wenig an Gottfredsons "Das Haus der sieben Gespenster". Aber wenn man die Geschichte schon kennt, wird man beim Wiederlesen Anzeichen entdecken; Anzeichen, die von Anfang an darauf hindeuten, dass diese Geschichte eben kein gewöhnlicher Kriminalfall ist. Das stärkste Anzeichen ist die mysteriös-unwirkliche Grundstimmung – wie gesagt ein Markenzeichen von Mezzavilla, das hier aber viel stärker ist als sonst – , andere sind zum Beispiel, dass in die Handlung, vor allem am Anfang und am Ende, immer wieder scheinbar grundlos wortlose Panels eingeschoben sind; oder dass sich der Baron merkwürdig lange Zeit lässt, um Micky zu erklären, warum er ihn hat kommen lassen, sodass Micky und mit ihm der Leser bereits vorher auf die mysteriösen Vorkommnisse stößt, allerdings unerklärt; oder auch diese wirklich seltsamen, auch für einen Kriminalfall ungewöhnlichen Vorkommnisse selbst.

Eigentlich wäre es eine weitere Besonderheit der Geschichte, dass wie gesagt die Erklärung des Problems, eigentlich der Ausgangspunkt einer Kriminalgeschichte, erst nach 18 Seiten stattfindet, also bereits in der zweiten Hälfte liegt – aber leider verrät der deutsche Titel bereits alles. (Wie viel besser ist da der italienische Titel: "Topolino e la villa dei misteri" heißt nicht mehr als "Micky und die geheimnisvolle Villa" – ein Titel, der nichts vorwegnimmt und so gut wie gar nichts über den Inhalt verrät, ein Titel, der nicht gewöhnlicher sein könnte und so einen starken Kontrast zu einer umso ungewöhnlicheren Geschichte bildet!) In dieser Villa verschwinden also Dinge – Schlüssel, Regenschirme und Brillen, aber auch ganze Betten. Manchmal tauchen sie an anderen Orten wieder auf, manchmal bleiben sie verschwunden. Es ist, wie wenn man etwas verliert, oder vergisst, wo man es hingelegt hat, passiert aber viel häufiger. Wäre die Geschichte ein Krimi, wäre das sehr interessant (was es natürlich ist, wenn auch auf andere Weise): Gibt es womöglich gar kein Problem und die Bewohner der Villa sind einfach nur schusselig? Bald stellt sich heraus, dass dem nicht so ist: Vor Mickys Augen bewegt sich eine Lampe wie von Geisterhand und fliegt davon. Das alles ist bis jetzt sehr spannend; man rätselt, was wohl hinter dem Verschwinden der Gegenstände stecken mag, wer es macht, wie er es macht und warum er es macht. Außerdem sind in die Geschichte immer wieder "falsche Spannungsmomente" eingefügt: Direkt nach dem Vorfall mit der Lampe beispielsweise bewegt sich etwas auf Micky zu, von dem man nur den bedrohlichen Schatten neben dem schreienden Micky sieht, doch dann stellt sich heraus, dass es nur eine umkippende Statue war. Gespannt fiebert man also der Auflösung des Falles entgegen. Doch dann kommt der Wendepunkt.

Der Wendepunkt

Bisher hat der arglose Leser "Villa der verschwundenen Dinge" trotz der versteckten Anzeichen für eine normale Detektivgeschichte gehalten. Jetzt, auf der 29. Seite der Geschichte (Seite 99 in LTB Ostern 5), fängt er an, seinen Irrtum zu erkennen. Micky entdeckt eine kleine Tür, die der Baron "noch gar nicht bemerkt" hat – hier beginnt man sich zu wundern. Anschließend öffnet Micky die Tür und steigt die dahinterliegende Treppe hinunter. Und nun wird es surreal. (Hier sind übrigens die Zeichnungen bemerkenswert; vor allem durch schlichtes Weglassen jeglicher Hintergründe schafft Cavazzano eine atemberaubende Atmosphäre.) Was genau passiert, liest man am besten selbst. Nur so viel: Am Ende ist man vor den Kopf gestoßen, und zwar so richtig.
Als ich die Geschichte zum ersten Mal las, muss ich etwa zwölf gewesen sein. Ich hatte noch kein großes Interesse an Comics, und ich dachte mir: "Was für eine blöde Geschichte". Abgesehen von einigen wenigen Erleuchteten, die den Sinn der Geschichte gleich verstehen, wird es allen Lesern so gehen. Sie werden sich über den seltsamen Schluss wundern, sie werden denken, dass die Geschichte ohne dieses komische Ende ganz gut gewesen wäre, und nicht mehr weiter daran denken. Später, wenn sie den betreffenden Band wieder einmal hervorholen, werden sie die Geschichte vielleicht noch einmal lesen,
Ästhetik des Sichverlierens
und vielleicht werden sie erkennen, dass sie von der ersten Seite an unweigerlich auf diesen Schluss hinsteuert, vielleicht werden sie erkennen, dass sie eben kein Krimi ist, vielleicht werden sie erkennen, was sie eigentlich will, vielleicht werden sie erkennen, wie genial sie ist. Vielleicht. Ich zähle mich zu diesen glücklichen Menschen.

Nun habe ich schon oft geschrieben, dass die Geschichte wie ein Krimi aussieht, aber keiner ist. Langsam sollte ich erklären, worum es sich denn dann handelt – doch das ist nicht so einfach. Man könnte sagen, dass es sich bei "Villa der verschwundenen Dinge" um einen der ganz wenigen wirklich literarischen Disney-Comics handelt. Die Geschichte ist nicht so klar, eindeutig und damit letztlich oberflächlich, wie es Disney-Comics sonst sind, man kann nicht ganz genau und mit letzter Sicherheit sagen, was Mezzavilla damit nun eigentlich meint, was symbolisch zu verstehen ist und wie, wie die Teile zusammenhängen und was sie bedeuten. Man kann nur persönliche Interpretationen finden, weshalb ich meine eigene dem Leser an dieser Stelle gar nicht aufdrängen will. Das ist es, was "Villa der verschwundenen Dinge" ihren literarischen Charakter gibt, das ist es, was die Geschichte für mich so genial macht. Feststellen kann man allerdings, dass der Comic sehr viel über die Figur Micky Maus aussagt – wer behauptet, sie sei eindimensional, hat diese Geschichte entweder nicht gelesen oder nicht verstanden.

"Villa der verschwundenen Dinge" ist ein wenig verschwunden in einer eigentlich überflüssigen LTB-Nebenreihe, mit deren Thema sie nichts zu tun hat (was aber nichts Ungewöhnliches ist; weil es nicht genug Ostergeschichten gibt, um jedes Jahr einen 250-Seiten-Band damit zu füllen, werden dort auch Geschichten ohne Themenbezug abgedruckt). Das hat aber auch etwas Gutes: Das Format des LTB Ostern ist etwas größer als beim normalen LTB, sodass Cavazzanos wunderbare Zeichnungen, die in vollendeter Ruhe das Wesen der Geschichte perfekt darstellen, besser zur Geltung kommen. (Gut, dass Cavazzano zu dieser Zeit nicht mehr so expressiv zeichnete wie früher; das hätte nicht zur Geschichte gepasst.)
Ich kann jedenfalls nur empfehlen, den Band zu kaufen. Ja, den ganzen Band, wegen einer einzigen Geschichte. Es lohnt sich, glaubt mir.

Mezzavillas Meisterwerk – lesen und die Maus mit neuen Augen sehen.

Von Primus (September 2016)

Zuletzt aktualisiert: 01.05.2023, 14:40
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